Zur Geschichte der Roßdorfer Pfarrkirche
Das am südlichen Rand des Amöneburger Beckens gelegene Roßdorf wird 750 als Rostorf erstmals urkundlich erwähnt. 1357 ist erstmals von einem Pfarrer die Rede, was für die Existenz eines Gotteshauses spricht. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wird der Friedhof um die Kirche mit einer Mauer umgeben, um ihn als Wehrkirchhof nutzen zu können. Als Marienkirche erscheint die Roßdorfer Pfarrkirche erstmals 1615. Über das Aussehen des damaligen Gotteshauses ist nur wenig bekannt: An seiner Westseite steht ein massiver Wehrturm. Aus alten Rechnungen kann man ersehen, dass die Roßdorfer Kirche Anfang des 17. Jahrhunderts eine Uhr, drei Glocken sowie eine hölzerne Empore besitzt. Als 1684 Jesuitenpatres Roßdorf besuchen, bietet die Kirche einen trostlosen Anblick - man vergleicht sie mit einem Keller. Zu diesem Zeitpunkt besitzt das Gotteshaus zwei Altäre.
Der spätgotische Kirchbau
1695 wird die alte Kirche abgebrochen und durch einen spätgotischen Neubau mit Sakristei ersetzt; der massive Wehrturm bleibt erhalten. Ausgeführt werden die Arbeiten durch Tiroler Handwerker, 1696 sind sie abgeschlossen. Über das Aussehen des spätgotischen Kirchenbaus lassen sich recht konkrete Vorstellungen machen, denn weite Teile der heutigen Kirche stammen aus dieser Zeit: u.a. der Chor und zwei Drittel des Kirchenschiffs. Die 22 m lange spätgotische Kirche hat im Chor drei, an jeder Seite des Kirchenschiffes zwei spitzbogige Fenster. Chor und Schiff besitzen ein Holzgewölbe, das im Kirchenschiff auf hölzernen Säulen ruht. Das ursprüngliche Holzgewölbe ist bis heute im Chor vorhanden, aber überstuckt. 1696/97 wird der Innenausbau vorgenommen, 1706 die Kirche feierlich konsekriert.
Der barocke Kirchbau
Anfang des 18. Jahrhunderts hält der Barock Einzug im Amöneburger Becken, was zahlreiche, zu dieser Zeit entstandene Barockkirchen belegen. Auch in Roßdorf bleibt diese Entwicklung nicht ohne Folgen, es entstehen Pläne für die barocke Umgestaltung der Kirche. Der Verlängerung des Kirchenschiffes muss 1728 der massive Kirchturm weichen. Bei den Arbeiten erhalten die spitzbogigen Kirchenfenster die heutigen Rundbögen. Nachdem das hölzerne Gewölbe des Kirchenschiffes zugunsten einer Spiegeldecke entfernt worden ist, wird der gotische Schlussstein mit mainzischem Wappenrad außen in die Südwand des Chores eingelassen. Im Sommer 1728 beginnt man mit den Arbeiten für die Empore, die sich bis 1732 hinziehen. 1729 wird der dreistöckige Haubendachreiter aufgesetzt. 1735 kann die Orgel aufgestellt werden. 1736/37 erhält die Roßdorfer Kirche durch Giovanni Batista Vico aus Lugano/Schweiz (1690-1758) ihre reichen Stuckkaturen. In den Folgejahren wird die Ausstattung der Kirche fortgesetzt (z.B. 1786 Beschaffung des Taufsteins). 1796 stiftet der Roßdorfer Johann Heinrich Rhiel den heutigen barocken Hochaltar. 1869 werden der Roßdorfer Kirche ein Marien- und ein Antoniusaltar gestiftet. Für den Antoniusaltar, dessen Altarfigur heute unter der Empore steht, muss die Kanzel versetzt werden. 1881 werden die Deckenbilder durch den Kasseler Professor H. Schneider neu gestaltet. Von den vier Roßdorfer Glocken (Marien-, Josefs-, Bonifatius- und Aloysiusglocke) müssen im 1. und 2. Weltkrieg jeweils drei zu Kriegszwecken abgegeben werden, die nach dem Krieg 1926 bzw. 1949 neu beschafft werden. In den Jahren 1954/55 werden die neugotischen Seitenaltäre durch barocke Holzaltäre ersetzt, die Maria und Josef geweiht sind. 1977/78 wird die Kirche erneut umgestaltet. Der Josefsaltar wird entfernt, um die Kanzel auf ihren alten Platz zurückversetzen zu können, die neue Sakristei erbaut und ein neues zentrales Deckengemälde geschaffen. Ferner werden Altäre und Figuren farblich neu gestaltet.
Rundgang durch die Kirche
Die Heiligenfiguren unter der Empore:
Links und rechts neben dem Haupteingang der Kirche befinden sich die Figuren zweier Mönche: St. Franziskus und St. Antonius. Franziskus weist Jesu Wundmale auf; Antonius hält das Jesuskind in seinen Armen, an seinem Gürtel hängt ein Rosenkranz.
Franz von Assisi, Ordensgründer (1226):
Armut und ein Leben in der Nachfolge Christi waren die Forderungen, die Franz von Assisi an sich und an die Welt stellte. Bemerkenswert war Franziskus´ Einstellung zur Natur, die er, wie sich selbst, als Gottes Geschöpf betrachtete.
Antonius von Padua, Kirchenlehrer (1195-1231):
Antonius – zunächst Augustiner, dann Franziskanermönch – zog lange Zeit predigend durch Italien und Frankreich. Antonius, der beim einfachen Volk sehr beliebt war, soll beim Auffinden verlorener Sachen helfen.
Die fünf Deckengemälde
Geht man zwischen den Kirchenbänken aus der Bauzeit hindurch in die Mitte des Kirchenschiffes, so hat man einen guten Blick auf die Spiegeldecke der Kirche. Ihre fünf Gemälde erzählen aus dem heiligen Leben Marias. Hinten links ist die Geburt Marias zu sehen, hinten rechts Mariä Verkündigung (beide 1881). Der Engel Gabriel verkündet Maria die Geburt des Gottessohnes: „Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben.“ Das Bild vorne rechts zeigt Maria bei Elisabeth (1881), die Maria zurief: „Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.“ Das zentrale Bild berichtet von Mariä Himmelfahrt (1978). Vor dem Hintergrund der Roßdorfer Pfarrkirche nehmen die zwölf Jünger Abschied von Maria, die im Himmel – eine Lilie als Symbol der Unschuld in ihrer Hand tragend – von der göttlichen Dreieinigkeit gekrönt wird. Die Darstellung der Dreieinigkeit ist von der Stuckatur Vicos über dem Altartisch inspiriert. Das Gemälde vorne links zeigt Maria als Himmelskönigin (1881).
Beichtstuhl
Die alten Beichtstühle
In die Seitenwände der Kirche sind zwei Beichtstühle eingelassen. Heute sind sie nicht mehr in Gebrauch, das Sakrament der Beichte wird in der alten Sakristei gespendet. Über den Beichtstühlen befindet sich (umgeben von Engeln im Strahlenkranz) ein Auge in einem Dreieck, das Zeichen der Allgegenwart des dreieinen Gottes. Links und rechts sitzen Engel mit Schriftrollen in Händen, die lateinische Bibelverse enthalten:
Amplius noli peccare - Sündige nicht mehr,
Scindite corda vestra - Zerreißt eure Herzen,
Confitete peccata vestra - Bekennt eure Sünden,
Ministerium reconciliationis - Dienst der Versöhnung.
Kanzel und Marienaltar
Links neben dem Altarraum befindet sich die barocke Roßdorfer Kanzel, unter deren Dach der Heilige Geist in Form einer Taube schwebt. Bei der Kanzel steht eine Statue des Hl. Josef (1998). Der Taufstein stammt aus dem Jahr 1786. Rechts neben dem Altarraum befindet sich der Marienaltar (1954/55 aufgestellt). Maria, die als Königin dargestellt ist, steht auf der Weltkugel. Mit ihrem Fuß zertritt sie die höllische Schlange, ein Motiv aus der Paradiesgeschichte.
Inschrift SanCta Maria
Die Inschrift über dem Altar
SanCta MarIa DeI genItrIX VIrgo totI orbI progenIta ora pro nobIs nVnC et In fIne VItae nostrae.
Übersetzung: Heilige Maria, Mutter Gottes, Jungfrau und Urmutter des gan-zen Erdkreises, bitte für uns jetzt und am Ende unseres Lebens. Fasst man die Großbuchstaben als römische Zahlzeichen auf, so erhält man das Jahr, in dem Giovanni Batista Vico die Stuckarbeiten in der Kirche beendete: 1x1000 (M) + 1x500 (D) + 2x100 (C) + 1x10 (X) + 3x5 (V) + 12x1 (I) = 1737
Stuckaturen im Altarraum
Im Roßdorfer Altarraum finden sich bemerkenswerte Arbeiten des schweizer Stuckateurs Vico: Zunächst sei auf die Darstellung der göttlichen Dreieinigkeit hingewiesen, die dieser im Chorgewölbe anbrachte. Bogenförmig über dem Altartisch befinden sich die Bildnisse der vier Evangelisten: Lukas (mit Stier) und Matthäus (mit Engel) als Stuckreliefs, Markus (mit Löwe) und Johannes (mit Adler) in gemalter Form. Links über der Tür zur alten Sakristei schuf Vico 1742 ein Relief, das die einen Bettler beschenkende heilige Elisabeth zeigt. Elisabeth von Thüringen, Landgräfin (1207-1231). Die ungarische Königstochter Elisabeth führte nach dem Tod ihres Mannes, Landgraf Ludwig von Thüringen, ein Leben in Schlichtheit und Armut. Von der Liebe zu Christus erfüllt, floh sie von der Wartburg und gründete als Franziskanerin in Marburg an der Lahn ein Spital, in dem sie niedrigste Arbeiten übernahm.
Der Roßdorfer Hochaltar
Altarbild: Das Thema des Altarbildes entspricht dem der dreizehnten Kreuzwegstation. Der Gekreuzigte liegt im Schoß Marias, im Hintergrund kniet weinend Johannes, der Lieblingsjünger Jesu. Über dem Geschehen schwebt der Heilige Geist in Taubengestalt.
Passionsengel: Die beiden Engel, die links und rechts über dem Altarbild sitzen, halten die Kreuzigungswerkzeuge Jesu in Händen: Hammer, Zange, Nägel, Essigschwamm und die Lanze, mit der Jesu Seite durchbohrt wurde.
Auge Gottes: Das Dreieck, in dem sich das Auge befindet, ist ein altes Symbol der göttlichen Dreifaltigkeit.
Linke Altarfigur: Hl. Kaiser Heinrich (973-1024). Politische Klugheit und tiefe Religiosität vereinte Kaiser Heinrich, der Namenspatron des Altarstifters, in seiner Person. Der letzte Herrscher aus sächsischem Kaiserhaus wurde 1014 zum deutschen Kaiser gekrönt. Mit seiner Gemahlin Kunigunde unterstützte er Kirchen, Klöster und Bistümer. Dargestellt wird Heinrich mit Krone, Zepter und Reichsapfel.
Rechte Altarfigur: Hl. Kunigunde (980-1033). Obwohl Kaiser Heinrich seine Frau Kunigunde sehr liebte, hatte er Zweifel an ihrer Treue und forderte ein Gottesurteil: Sie sollte barfuß über glühende Pflugscharen laufen. Diese tat es auf Gott vertrauend, der ihre Unschuld kannte, und beschämte damit ihren Mann. Unter Umständen handelt es sich bei der Figur um Elisabeth von Thüringen.
Der Tabernakel: Tabernakel bedeutet übersetzt Zelt. Er ist Aufbewahrungsort der gewandelten Hostien und somit Wohnstatt Gottes, dessen Gegenwart das ewige Licht anzeigt. Die Buchstaben A und W bedeuten, dass Christus Anfang und Ende, „Α und Ω der Welt“ ist. Das A ist der erste, das Ω der letzte griechische Buchstabe.
Engel mit Weihrauch: Der Engel rechts neben dem Tabernakel umfasst ein „Schiffchen“, das Aufbewahrungsgefäß für den Weihrauch; der linke Engel hält ein Rauchfass in seinen Händen, das Gefäß zum Verbrennen der Weihrauchkörner. Der Weihrauch symbolisiert die Gebete der Gläubigen, die zu Gott aufsteigen. Gleichzeitig ist er ein Zeichen tiefer Verehrung.
Das Lamm auf dem „Buch der sieben Siegel“: Diese Jesusdarstellung ist der Offenbarung des Johannes entnommen: „Und ich sah eine Buchrolle; sie war mit sieben Siegeln versiegelt. Und ich sah ein Lamm. Das Lamm trat heran und empfing das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Und sie sangen ein neues Lied: Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen.“
Quellen:
Dr. A. Schneider, Zur Geschichte der Pfarrkirche St. Marien in Roßdorf, Festschrift zum 250-jährigen Bestehen der barocken Pfarrkirche im Jahre 1982, Marburg 1982.
Willi Krähling, Zeichnungen
Andrea Luzius, Fotos
Guido Pasenow, Text, September 2002